Thursday, October 29, 2009

Deutsche Sprache

Mir sind salbaderische Gemeinplätze in der Natur zuwider.

Goethe


"Ich meine die Transformation des Bewusstseins in eijne kollektive Erscheinung, in eijn soziologisches, nicht mehr individuelles Phänomen. Das Mirakel dieser Wochen bestand darin, dass die scheinbar undurchdringliche dichte Schicht, die die vitale und intellektuelle Sphäre des einzelnen voneinander scheidet, gleichsam porös ward, dass die isolierten Centren unseres individuell zersplitterten Lebens zusammenschossen, zusammenwuchsen zu einem Gebilde von undendlich höherer als einzelmenschlicher Individualität." Dieses las ich in einem deutschen Aufsatz vom Anfang des Krieges zur "Analyse der deutschen Psyche", und ich begriff später den Zusammenbruch der Heimat. Aber bevor es noch dazu kam, gab mir ein Aufsatz vom "Lohn des Krieges" eine Antwort auf manche bange Frage und gab sie so: "Wir erwarten nach den Peripetien des Krieges die Katharsis." Was und wo ist nun diese Synthese und Katharsis, und wie also sieht der Lohn des Krieges aus? "Wirtschaft ist Schicksal" steht an der Sklavenstirn einer rechtlosen und entwaffneten Zeit. "Oekonomie ist Ananke" wäre passender.

Der Mund ist der Notausgang des Herzens, und die Sprache ist ein Zufluchtsort des Geistes und darüber hinaus sein lebendig tönendes Sinnbild. Sprachliche Zustände sind Zeichen des Geistes ihrer Zeit, ujnd die Seele eines Volkes schwingt heimlich in seiner Sprache bis zu jenem toten Punkt, jenseits dessen die Worte zu Wörtern werden und die Sprache entseelt zu klappern beginnt, ein toter Stoff, ein leerlaufendes Getriebe, eine künstlich atmende Wachspuppe in den Schaukästen der Bücher und Zeitungen.

Ich hüte mich, die Sprache aus diesen fein veröstelten Beziehungen zu jener geheimen Lebenskraft zu lösen und sie allein für sich zu werten. Dann ist sie nur als brauchbares Mittel zum Zweck von Mitteilungen des Nützlich-Notwendigen und als Gegenstand einer grammatischen Wissenschaft giltig.
Staatsbehördliche, amtlich überwachte Vorschriften für den Wortgebrauch in der Sprache und alle ähnlichen, darauf gerichteten Mühen bleiben günstigen Falls auf die Oberfläche beschränkt, auf die Sprache , und entsprechen dem Zwang des Stärkeren, der vielleicht die Anbetung eines Steines zu ertrotzen, nie aber den Glauben an diesen Stein als an einen Gott zu erzeugen vermag. Schöpferisch ist nur der Geist, niemals die Vorschrift.

Aus dem lebendigen Geist dringen die Worte hervor wie Blumen aus der lebendigen Erde. Ja, die Worte sind Kinder und Träger des Geistes zugleich.
Wenn Eduard von Hartmann sagt: "Alle Relationen, die das bewusste Denken sich diskursiv appliziert, sind nur Reproduktionen expliziter oder Explikationen impliziter Bewegungen", so enthüllt dies dasselbe, das der preussische Minister von Hammerstein enthüllte, als er im Abgeordnetenhause sagte: "Meine Herren, wenn ich "absolut" sage, so meine ich das natürlich relativ", verrät er dasselbe, das diese Worte verraten: "anbei retournieren wir Ihr geehrtes Gestriges", dasselbe, das ein Ladenschild mit seiner Inschrift "Glasbrillanten, garantiert echte Imitationen" verrär. Wo liegt der Unterschied zwischen den Worten Roethes "eine Erscheinung à la Karl der Grosse" und denen eines Schaubudenmannes: "Panorama international, à Person 20 Pfg."? Ist es verräterrischer, eine Strassenbahnkarte mit den Worten "eins à zehn" zu fordern oder mit B. Litzmann die literarischen Ergebnisse "der modernen Nervosität imd Hysterie" so zu nennen: "Krassester Materialismus, mystischer Spiritismus, demokratischer Anarchismus, aristokratischer Individualismus, pandemische Erotik, sinnabtötende Askese"?

Sie alle dachten: diskursiv, implizit, retournieren, pandemisch, demokratisch, à la und international und Imitation, garantiert echt. Ich weiss nicht, was das heisst, ich weiss nur, was es vielleicht zu bedeuten hat. Hier besteht für den Betrachter nicht mehr die irreführende Versuchung, die Sprache vom Geist, aus dem sie geboren war, zu lösen. Es ist schon geschehen. Die Wörter stehen da. Das Geklapper setzt ein... demokratisch, international, garantiert echt, eins à zehn... Der rote, atmende, heisse Mund wich dem Grammophon. Das Sinnbild verdorrte zur Formel. Das Wort wurde zum Stempel.

Das junge Geschlecht ist durch die Schlachten hindurchgeschritten und steht jetzt zwischen den Schlachten. Noch reden vielerorts Fünfzig- und Sechzigjährige und solche, die zu Hause gegen die Papierschnitzel der Brot- und Fettmarken einen erniedrigenden Kleinkrieg geführt haben und geschult und gezähmt, nicht aber geformt sind. Die Zeit muss kommen, in der das durch die Schlachten geformte, starke und gesunde Geschlecht des Krieges handelt, und sein schwer errungenes deutsches Lebens- und Gemeinschaftsgefühl schicksalsbestimmend wird. Vor dem "sprich deutsch" steht das "sei deutsch", und das Zeichen der Sprache des jujngen Geschlechts kann nichts anderes sein als das Feldzeichen eines starken, gewaltigen Geistes in den Kämpfen des Friedens.

Franz Schauwecker, in: Das Gewissen, 5. Jahrgang, Nummer 7, 19. Februar 1923.

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