Thursday, October 29, 2009

Die Aussichten des Proletariats II

Die nationale Wendung im deutschen Proletariate geschieht nicht freiwillig. Sie geschieht unter dem Zwange der Gefahr für den Kommunismus, dass der Ententekapitalismus sich ganz Europa unterwerfen wird, dass er durch seinen Militarismus mit den Nationen auch die Proletariate derselben vergewaltigen wird, dass die Herrschaft des Westens sich über Deutschland hinweg am Ende bis nach Russland ausdehnen wird.
Aber wir wollen auch diesen aussenpolitischen Druck bei Seite lassen, obwohl schon hier die Unselbständigkeit auffällt, dass das deutsche Proletariatsich auf die entsprechende Situation von Russland her aufmerksam lassen musste und der deutsche Kommunismus seine nationale Wendung erst auf bolschewistische Anweisung hin vollzog. Entscheidend wird schliesslich sein, ob das deutsche Proletariat der aussenpolitischen Situation, in die es sich plötzlich versetzt sieht, nationalpolitisch gewachsen sein wird. Dies ist die Frage, auf die wir eine Antwort um so dringender haben müssen, als das deutsche Proletariat den Nachweise seiner geistigen Vorbereitung revolutionspolitisch schuldig geblieben ist.
Wir haben hier von Anbeginn gesagt, dass jedes Volk seinen eigenen Sozialismus hat. Ein jedes Volk hat auch seine eigene Revolution. Auf einem internationalen Jugendtage hat Sinowjeff unlängst geschichtsphilosophische Betrachtungen angestellt und die Frage nach den Voraussetzungen aufgeworfen, unter denen überhaupt ein Proletariat erwarten kann, dass es Ziele erreicht, die es sich setzt. Er meinte, dass man, wenn man die revolutionären Kämpfe in den verschiedenen Ländern durchsähe, "manchmal zu dem Schlusse komme, es könne die Arbeiterklasse nicht eher siegen, als bis sie nicht die eine oder andere Niederlage erlitten habe", und führte für Russland die Ereignisse der Jahre 1905 und 1906 an, "ohne die", wie er sagte, "es wohl keinen Bolschewismus im Jahre 1917 gegeben haben würde". Noch weiter ist Lenin bei Gelegenheit gegangen und hat schon vor 1917 davon gesprochen, dass die Aussichten einer kommenden russischen Revolution in der langen unterminierenden Vorarbeit lägen, die von den Dekabristen an und hernach durch die Nihilisten bis zu den russischen Marxisten geleistet worden sein: durch den russischen Verschwörertyp, der sich in Verfolgung und Verbannung schulte, in Sibirien und in der Emigration, der seine Tätigkeit von der einen Generation an die andere weitergab, immer wieder seine Propaganda in das Volk trug und sich durch keine Rückschläge beirren liess. Lenin hätte noch tiefer greifen und die gesamte geistige Leistung der Russen im borigen Jahrhundert einbeziehen können, ob sie nun revolutionär oder gegenrevolutionär war, ob wir an Tolstoi oder an Dostojewski denken. Von hier aus wurde der Boden bereitet, wurde die geistige Verfassung des russischen Volkes auf die grosse Apokalypse vorbereitet, und wäre es auch nur, dass durch Analyse als Spiegelung der Geistesverfassung festgestellt wurde, bis zu welchem Grade die politische und moralische Zersetzung des auf Autokratie und Orthodoxie, freilich auch auf Nationalität begründeten Reiches bereits gediehen war.

Moeller van den Bruck, in: Das Gewissen, 5. Jahrgang, Nummer 39, 1. Oktober 1923.

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