Bar jedes historischen Rechtsempfindens ist das Vernunftrecht der Aufklärung. Als Naturrecht ist es eine Verstandeskonstruktion, die nicht mehr, wie das mittelalterliche Naturrecht, aus dem Ordo des Seins erfragt, was rechtens ist. Die Toleranz der Aufklärung entsprang einer Vergleichgültigung der religiösen Wahrheit, die ihre Vernunftreligion in allen Religionen der Erde als allgemein-menschliche moralische Überzeugungen finden wollte. Ihre Humanität hatte ein Auge nur für dieses Allgemeinmenschlich-Kosmopolitische der Menschenwürde, aber nicht für dessen besondere Ausfaltung zu persönlicher Individualität und zu geschichtlich-volkhafter Prägung. Ihre Geschichtsauffassung war, dem entsprechend, nur an dem allen Gemeinsamen interessiert, an der einen Vernunft und der überall gleichen Vernunftmoralität. Und so war die Aufklärung trotz historisch-kritischen Blicks und trotz mancher historischer Leistung auf dem Gebiet der Profan- und Kirchengeschichte im tiefsten Grunde unhistorisch. Ihr philanthropisches Streben nach Allgemeinbildung war einseitig intellektualistisch, nur auf Aufnehmen und Lernen von Wissensstoff gerichtet. Ihre Menschlichkeit im Strafrecht übersah, da ihrem Nutzdenken die Strafe zu allererst nur Besserungsmittel war, den tieferen Sinn im inneren Zusammenhang von Schuld und Sühne. Und ihre kirchlichen Reformen, die in katholisches und protestantisches Christentum tief eingriffen, waren, ihrem Intellektualismus gemäss, von allzu wenig Ehrfurcht vor dem undurchdringlichen Mysterium im Kult und vor der göttlichen Autorität im Glauben getragen. Vernunft und Moral - das war im Grunde das eins und alles der Aufklärung. Das war ihr Dogma und ihre Religion. Es war ein hoher, grosser Glaube, dem all diese Vernünftigkeit entsprang: Glaube eben an die Vernunft im Menschen, Glaube an den Menschen selbst und seine Eigenkraft und Autonomie in Selbsteinsicht und Selbstleistung. Es war ein neuer Pelagianismus im Christentum, der mit der Aufklärung einsetzte, wie ja Pelagius in der antiken Kirche der autonome Stoiker, und die Stoa Vernunftzuversicht und humane Menschenliebe, Philanthropie, gewesen war.
[...]
Und selbst die Moral, dieses Urgebiet der Freiheit, soll ein "Gesetz" der Freiheit finden, das moralische Gesetz in mir, in Parallele zu dem Gesetz der Himmelsmechanik, dem gestirnten Himmel über mir, das Gesetz: allgemeingültig zu handeln, wie Kants kategorischer Imperativ es fordert.
Dieses Gesetzesdenken will etwas. Alle Aufklärung ist zweckhaft. Es will herrschen. Erkenntnis ist nicht mehr Staunen und Betroffensein vom Seienden und seiner Fülle, wie es die griechische "Theorie" gewesen war, ujnd wie sie das gesamte abendländische Denken bisher vertreten hatte. Das aufgeklärte Wissen will rechnen ujnd darin absehen von allen qualitativen Gehalten, die man ja nicht errechnen kann. Es will nicht mehr Substanz, es will Funktion, Regel, Verbindung immer gleichen Geschehens, das man in Quantität, in Zahl und mathematischer Formel ausdrücken kann. Und es will - so sagt Kant äusserst charakteristisch - der Natur als der uns Menschen erkennbaren Erscheinungswelt ihre Gesetze, ihre Regelhaftigkeit in Gemässheit unseres Denkens über sie "vorschreiben". Es will verfügen, gebieten, ordnen und verwerten. Es will herrschen gemäss dem praktischen Sinn aller Aufklärung: es will die Welt gestalten gemäss der Einsicht in ihre Gesetzlichkeit. Und eben da schlägt die Geburtsstunde unserer modernen Technik. Sie ist das legitime Kind der Aufklärung, ihr Erbe an das 19. Jahrhundert und nicht zuletzt auch uns selbst. Verwertung der Naturgesetze zur Lebensgestaltung: das ist der Wille der aufgeklärten Wissenschaft von der Natur.
Theodor Steinbüchel, Zerfall des christlichen Ethos im XIX. Jahrhundert. Josef Knecht, Frankfurt am Main 1951.
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