Gescheitert ist also das grosse Projekt, das sich Entmythologisierung nannte. In diesem Zeichen machte sich einst das bürgerliche Denken (und das aristokratische, nicht zu vergessen) seit dem 18. Jahrhundert daran, die sinnlichen Bilder aus dem Leben des Volkes auszurotten. Das Christentum, der Pfarrer als Aufklärer, schritt selbst voran, geleitet von der Hoffnung, nun endlich die beharrlichen Überreste des Heidentums - Weihnachtsbäume und Osterfeuer, Heiligenvielfalt und hexische Frauenweisheit - erledigen zu können. Aber kaum schien es am Zuge, da musste es - wie Robespierre - selbst den Kopf unter die Guillotine legen. Der Eingott der Säuberung hiess plötzlich nicht mehr Jahwe, sondern "die Vernunft", "die Wissenschaft", "der Fortschritt".
Geblieben war in diesem Veränderungsprozess jedoch eines: die Götterkonfiguration mit dem einen Fortschritt, nur ein Wachstum, nur eine Evolution. Neben dem eindimensionalen Weg von "niederen" zu "höheren" Stufen ist ein Anderesn ganz Anderes nicht denkbar. Und gegen dasjenige, das sich dennoch verweigerte, gab es die Waffe der Ideologiekritik im Namen der einen Rationalität.
Aber auch das wirkte nur so lange, bis sich die Ideologiekritik gegen die Ideologiekritik selbst zu richten begann, bis die kritische Wissenschaftstheorie zum Beispiel die Ansprüche der Wissenschaft abschminkte. Da wird sichtbar, dass der eine Gott der der bürgerlichen Philosophie der bestimmte Artikel ist (das Sein, die Logik, die Wahrheit, die Methode), wohl einer der hässlichsten, weil abstraktesten Götter in der Weltgeschichte. Indem dieser Singular diktatorisch jeden Plural ausschliesst, erweist sich das Diktat der einen Wissenschaft als "Law-and-order-Fetischismus" und letztlich totalitär.
Dem tritt nun eine neue Wissenschaftstheorie entgegen mit der These: "Die Wissenschaft ist wesentlich ein anarchistisches Unternehmen" (Paul Feyerabend). Es gibt keine Wissenschaft, die die Wirkung des Regentanzes der Hopi widerlegt hätte - wie also kommen Wissenschaftler dazu, das Regenmachen für unmöglich zu erklären? Doch nur als Hohepriester des einen, hässlichen Zentralgotts. Das wird nicht länger hingenommen. "Bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie" (Odo Marquard). Wissensdhaften und Philosophien sind gehalten, ihre Kollaboration mit dem Monomythos zu beenden. Es lebe der Vielfall.
Die industriegesellschaftliche Entmythologisierung ist also gescheitert in dem Augenblick, da sie als Ummythologisierung durchschaut wurde. Damit ist zugleich der Polytheismus als "sozusagen die Klassik der Polymythie" rehabilitiert. Wenn heute eine erneute, postindustrielle Ummythologisierung erforderlich ist, dann sicher keine im Namen eines einen Gottes. Seine Zeit ist vorbei. Die sterbenden Wälder im Namen des einen Wachstums zeugen davon.
Damit wird auch deutlich, dass die Ummythologisierung, die heute ansteht (oder schon im Vollzug ist?), kein nur intellektueller Vorgang ist, keine Frage nur des Durchschauens. Das neue "Lob des Polytheismus" ist, wenn es von Bedeutung ist, nicht nur eine Sache der Gehirne, sondern Teil einer realen gesellschaftlichen Umwälzung der Industriekultur. Ebenso wie umgekehrt der Monotheismus seit dem 18. Jahrhundert eine reale Basis hatte: die industrielle Revolution. Die Zentralmacht des einen Gottes und die Zentralmacht der industriellen Produktion entsprachen einander.
Henning Eichberg, Von alten Mythen zu befreiten Zonen. Odin als Revolutionär und indianische Ratschläge zur Entkolonisierung. In: Wir Selbst. Zeitschrift für Politik und Kultur. 3-4/1990. Siegfried Bublies, Koblenz.
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